Chen Kuen Lee

von | Aug 19, 2018 | Lebensraumgestaltung | 0 Kommentare

Auf der Suche nach dem Lebendigen in der Architektur.

»Mensch, Raum und Natur – diese drei gehören zusammen« schrieb Chen-Kuan Lee in einem der wenigen eigenen Publikationen. Mit dieser prägenden inneren Haltung realisierte der deutsch–chinesische Architekt 63 Projekte und ca. 40 Entwürfe im Bereich der organischen Architektur. Und obwohl er Zeit seines Lebens recht unbekannt blieb, war er einer ihrer beharrlichsten Vertreter.

Lee befasste sich überwiegend mit dem Wohnungsbau. Seine Bauten sind regelrechte Wohnlandschaften. Landschaft und gebauter Raum fließen in polygonalen Grundrissen ineinander über. Für Lee war Architektur die Gestaltung von Landschaft. Die individuellen Besonderheiten der Grundstücke, ihre Lage und Beschaffenheit widmete er eine eigene Aufmerksamkeit. Bereits im frühen Stadium des Entwurfs arbeitete er deshalb eng mit den Landschaftsarchitekten Hermann Mattern, Adolf Haag und dessen Sohn Hannes Haag zusammen.
Die Grenzen zwischen Landschaft und gebautem Raum scheinen sich durch große Glasfassaden und leicht wirkende Wände aufzulösen, so dass sie letztlich gemeinsam eine beruhigende Einheit finden. Verstärkt wird die Wirkung durch Sichtachsen, bepflanzte Innenflächen oder auch Wasserflächen. Lee ́s Suche nach dem Lebendigen und Fließenden spiegelt sich hierin genauso wieder, wie in den ineinander übergehenden Raumabfolgen, den unterschiedlichen Zwischenebenen sowie den offenen, sich abwechselnden und schiefwinkligen Raumformen. Er schaffte auf diese Weise verschiedene Aufenthaltsorte mit unterschiedlichen Atmosphären, die zu unterschiedlichen Raumwirkungen führen.

Seine Grundrisse entwickelte Lee von innen nach außen.

Maßgabe waren ihm dabei die funktionellen Abläufe und das Wohnverhalten seiner Bauherren. Er saß oft und lange mit seinen Bauherren zusammen und freundete sich fast immer mit ihnen an.
In der Berücksichtigung des Zusammenspiels von Mensch, Raum und Natur gelang ihm die tatsächliche Umsetzung seiner Philosophie – die Einheit von Mensch, Raum und Natur. Diesem Baugedanken ist er Zeit seines Lebens beharrlich treu geblieben.
Lee hat dieses Zusammenspiel aber nicht nur in seiner der Funktionalität oder und der Formensprache des Gebauten gefunden, sondern auch in den atmosphärischen Qualitäten und in der Wesenhaftigkeit der Architektur und in dem Atmosphärischen. So lässt sich beispielsweise für den Bewohner seiner Häuser die Weite von des Himmels, die Verbundenheit zur Erde und die Leichtigkeit der Raumumgebung erspüren, wenn sich inmitten der Raumlandschaft aufhält. Auch in vielen Gebäuden von Hans Scharoun, der Lee ́s Entwicklung als organisch bauender Architekt besonders geprägt hat, ist diese Verbundenheit zur Erde und eine gewisse Leichtigkeit erlebbar. Auf die für Lee so bedeutsame Beziehung zu Hans Scharoun werde ich weiter unten näher eingehen.

Im Kan Yu, einer alten chinesischen Weisheitslehre des Tiefenbewusstseins, die als der Ursprung des Feng Shui bezeichnet wird, heißt es: »Wenn die Energie des Himmels und die Energie der Erde sich mit der Energie der Umgebung vereinen, entsteht ein Ort der Kraft.« Wenn also Mensch, Raum und Natur eine Harmonie finden, kann die Wirkung kraftvoll und zeitlos sein. Die Lehre des Kan Yu hat ihren Ursprung im Tao. Lee war Taoist. Der Taoismus, auch Daoismus, ist eine chinesische Philosophie, zu der kosmologische Vorstellungen von Himmel und Erde, die Fünf Wandlungsphasen des I Ging, die Energielehre über das Chi oder auch Qi, sowie Körpertechniken wie das Tai Chi Quan, das QiGong oder auch Meditation gehören.

Das Lebendige in der Architektur

Seine Wahrnehmung für das Atmosphärische, das Unsichtbare, hat Lee somit sicherlich seinem chinesischen Ursprung, seiner Beschäftigung mit dem I Ging, ein Buch, das ihn sein Leben lang begleitete, und seiner Tai Chi Praxis zu verdanken.

Allerdings begann Lee ́s Auseinandersetzung mit der chinesischen Kultur, der Bautradition und auch dem Feng Shui erst, als er bereits in Deutschland war und dem deutschen Chinaforscher Ernst Boerschmann (1873-1949) begegnete. Boerschmann, selbst Architekt, wurde 1902 erstmalig nach China gesandt. In seinen insgesamt drei langen China-Aufenthalten bereiste er 14 von 18 Provinzen und dokumentierte zahlreiche Gebäude, Pagoden, Tempel etc. Er erstellte damit eine umfangreiche Sammlung an Foto s, Zeichnungen, historischen chinesischen Dokumenten und Schriften, die Lee später für seine Studien nutzten konnte.
Bis Lee aber Boerschmann kennenlernte, erlebte er einige Wendezeiten in seinem Leben: Chen Kuen Lee wurde 1915 in Wuxing in der südchinesischen Provinz Zhejiang geboren. Er wuchs als Sohn eines reichen Seidenfabrikanten, in einem Wohnkomplex auf, der später mehr als 50 Wohnungen beherbergen sollte. Lee genoss eine sehr traditionelle Erziehung und lernte ein Weltverständnis des Taoismus und des Konfuzianismus. Im Alter von zweieinhalb Jahren begann sein Unterricht in der Familienschule. Ab diesem Alter lernte er Kalligraphie. Kalligraphie selbst ist in China eine klassische Kunst und gilt oft als meditative Arbeit.
»Die Ruhe dieser Arbeit erfüllt das ganze Wesen mit einer umfassenden Zufriedenheit, wo Zeit und Raum, für kurze Zeit wie weggewischt, uns nicht mehr kümmern noch belasten.«

Auszug aus dem Leben

Anfang der zwanziger Jahre zog seine Familie von der behüteten Provinz in die moderne Metropole nach Shanghai. Lee war zu dem Zeitpunkt acht Jahre alt. In Shanghai erlebte er eine lebendige und aufblühende Stadt. Dass er Anfang der 30er Jahre nach Deutschland kam, verdankte er einem seiner Onkel. Er war damals 16 Jahre alt. Lee studierte zunächst in Braunschweig dann in Berlin Architektur.
 In Berlin war gerade die Zeit, in der der Nationalsozialismus sich ausbreitete und die Wirtschaftskrise herrschte. In dieser Zeit machte ihn sein Onkel mit Ernst Boerschmann bekannt.
Lee, der sich selbst als Architekt des Neuen Bauens bezeichnete, liebte die moderne Welt und suchte nach deren Architekten. Nun war es aber eine Zeit, in der bereits neunzig Prozent der Architekten keine Beschäftigung mehr hatten. Viele emigrierten. Das Bauhaus in Dessau wurde 1932 von den Nationalsozialisten geschlossen.
Im Zusammenhang mit Lee ́s Lebenslauf sind drei wichtige Architekten des Neuen Bauens, die damals in Deutschland geblieben sind, zu erwähnen: Hans Poelzig, Hans Scharoun und Hugo Häring. Hans Poelzig durfte damals nicht mehr an der Universität unterrichten. Worauf Lee ihn in seinem privaten Bauatelier besuchte. Poelzig willigte ein, Lee trotz des Verbots zu unterrichten. Das war für Lee Wende hin zum Neuen Bauen. Lee selbst schrieb später zu diesem Schritt: »Das ist das, was die Chinesen als „das Schicksal selbst in die Hand nehmen“ nennen. Die Richtung muss man selbst bestimmen.«

Nach seinem Studium arbeitete Lee bei Hans Scharoun und baute seine Praxiserfahrung weiter aus. Über Scharoun lernte Lee Hugo Häring kennen. Scharoun und Häring trafen sich damals regelmäßig zum Gedankenaustausch. Auf Anregung Härings studierten Lee, Scharoun und Häring die chinesische Bautradition auf der Grundlage von Boerschmanns Aufzeichnungen. 1941 gründeten sie aus dieser Arbeitsgemeinschaft heraus den »Chinesischen Werkbund«. Häring beschäftige sich damals mit der Phänomenologie des Philosophen Edmund Husserl (1859 – 1938). Husserl brach zu seiner Zeit mit den angewandten psychischen Gesetzen der Logik und gilt seither als Begründer der Phänomenologie.

Der Chinesische Werkbund

In seiner Habilitation »Chen Kuan Lee und der Chinesischen Werkbund« verdeutlicht der Autor Wen Chi Wang die zentralen Gedanken der Arbeitsgemeinschaft mit einem von Häring zitierten Prinzip des Laozi: »Das Sichtbare wirkt Nutzbarkeit, das Unsichtbare birgt Wesenheit.« Bei dem Sichtbaren handelt es sich nach Wang um alles, was sich sinnlich empfinden lässt, während die unsichtbaren Phänomene geistig intuitiv erfasst werden können.

Für Scharoun galt Vergleichbares. In einem unveröffentlichten Vorlesungsmanuskript über den chinesischen Städtebau heißt es: »Unsere Aufgabe ist, hinter den äußeren Erscheinungen die „inneren Gestalten“ zu erkennen.« Es war eine Suche nach den schöpferischen, lebendigen Aspekten 
in der Architektur. Häring nannte dies »Das Geheimnis der Gestalt.«
Der Chinesische Werkbund existierte aufgrund des nahe gerückten Krieges nur für kurze Zeit. Berlin wurde heftig bombardiert. Lee verließ die Stadt und ging zu Ernst Boerschmann nach Bad Pyrmont. Es sind nur wenige Schriften aus der Zusammenarbeit im Chinesischen Werkbund entstanden. Eine besondere und viel veröffentlichte Schrift beinhaltet die Studien von Lee und Häring über Dachprofile.

Als Lee nach Kriegsende zurück nach Berlin kam, arbeitete er noch einige Zeit bei Scharoun, bevor er sich mit einem Büro in Berlin und Stuttgart selbstständig machte. Für die Architektur von Chen Kuan Lee spielte das Dach als Weiterführung der Landschaft eine große Rolle. Seine Dachlandschaften überspannen als gefaltete Segmente oder als Tonnendach ausgeführt die kompletten Grundrisse seiner Bauten. Große Dachüberstände verschatten große Glasfassaden. Im Innenraum sind die unterschiedlichen Dachflächen teilweise auf unterschiedliche Raumhöhen oder auch bis tief in eine Raumecke (Haus Scharf) hinuntergezogen, um eine geborgene Atmosphäre zu erzeugen.

Dachlandschaften

Die »Dachlandschaften« sind eine raffinierte Lösung, die Lee, Scharoun und Häring aus den vorgegebenen Planungszwängen
 für die derzeitig von den Nationalsozialisten geforderten traditionellen »deutschen« Dächer, die alle steil geneigt sein sollten, entwickelten. Häring, Scharoun und Lee erarbeiteten sich die Idee der »Dachland- schaften« mit Hilfe der Schriften von Ernst Boerschmann.
Für einige Kenner mag die Konzentration auf das Wesenhafte in der Architektur von Lee und die evtl. damit verbundene Überhöhung des Spirituellen in seiner Arbeit überinterpretiert sein. Doch was genau ist es, das die spürbar besondere Qualität der Räume ausmacht?
Es gibt viele Versuche, mit Formen, Farben, Materialien, Bezugsherstellungen etc. gute Raumwirkungen oder gar Raumerlebnisse zu erzeugen. Trotzdem scheitern viele Projekte, weil sich die erdachte Wirkung im fertigen Bau nicht, vor allem nicht dauerhaft einstellt.
Sicherlich darf dieser Aspekt noch tiefer erforscht werden. Gleichzeitig wäre eine spannende Aufgabe, die Bauten von Lee und Scharoun einer nachträglichen geomantischen Analyse zu unterziehen,
 um ein – wenn auch unbewusstes- spirituelles Vorgehen der Erschaffer zu belegen oder zu widerlegen. Doch hier käme man in den Bereich einer energetischen, phänomenologischen Auseinandersetzung, die eine objektive und rationelle Beweisführung nicht leisten könnte.

Es liegt mir fern Lee oder gar Scharoun als spirituelle Menschen zu bezeichnen.
 Sie selbst hätten dies vermutlich vehement abgestritten. Doch braucht man kein erleuchteter Meister zu sein, um Dinge zu durchdringen. Es reicht die intensive, innere Auseinandersetzung mit einem Thema, das ein echtes Herzensthema ist. Lee war es eine Herzensangelegenheit, das Lebendige in der Architektur, die Einheit von Mensch, Raum und Natur, zu finden. Im Taoismus heißt es: „Der Weg führt dich zum Ziel“. Das bedeutet, die innere Haltung, die Intensität, die echte Sehnsucht in der Suche nach Erfüllung macht den Unterschied zum Wesenhaften.
Die Beharrlichkeit Lee ́s, das Lebendige oder Wesenhafte in seinen Bauten aufzuspüren, mag durchaus den ein oder anderen beim alleinigen Betrachten der Objekte aus der gewohnten Ruhe bringen; begegnen ihm doch in der Offenheit der Räume viele unterschiedliche Durchblicke, Richtungswechsel, Überlagerungen, Sichtbezüge, vor allem, wenn die Räume möbliert sind, Bilder hängen oder andere Accessoires der Bewohner die Räume zusätzlich füllen, können es zu viele Eindrücke gleichzeitig sein.
Doch das wirkliche Erleben der Räume 
ist anders, es ist ein Innerliches. Es ist ruhig, harmonisch, ausgeglichen. Um das zu erleben müssten vielleicht. die Augen für einen Moment geschlossen werden. Dann liegt es nur noch an der Bereitschaft des Betrachters, sich auf die Raumphänomenologie einlassen zu wollen.

Am Ende des Lebens

Schliesslich waren es die schwierigen und offenen Baukonstruktionen, die nicht mehr zu der kommenden Zeit der Energiekrise passten und dafür sorgten, dass Lee so gut wie keine Aufträge mehr bekam. Im Jahre 1981 folgte er einer Einladung für eine Gastprofessur an die Tunghai Universität nach Taichung in Taiwan. Lee lehrte dort bis Mitte der 90er Jahre. Er war nun 67 Jahre alt. Auch in der Lehre blieb er seinen Prinzipien treu.
1997 kehrte Lee nach Berlin zurück. Er verstarb im Alter von 88 Jahren in einem seiner selbst gebauten Appartements im Märkischen Viertel. Hier errichtete er fünf seiner Mehrfamilienhäuser im Geschosswohnungsbau. Es entstanden 1.240 Wohnungen mit 48 unterschiedlichen Grundrisstypen.
Vier Jahre vor seinem Tod fasste er die für ihn wesentliche Bedeutung des Bauens mit folgenden Worten zusammen: »Wohnen ist Strukturierung der Beziehungen sowohl zwischen Mensch und Mensch als auch zwischen Mensch und Kosmos.«

Andrea Schmidt


Literaturhinweis:

  • Lee, Ich und das Neue Bauen (aus: Die Entwicklung des Neuen Bauens – die Arbeiten Lee Chen Kuens 1965-1982 /1965-1982), Taipei 1996, S. 91-98)
  • Institut für Auslandsbeziehungen, Chen Kuen Lee – Hauslandschaften, Organisches Bauen in Stuttgart, Berlin und Taiwan, Kraemer Verlag, 2015
  • Wen-Chi Wang, Chen Kuan Lee und der Chinesische Werkbund, Reiner Verlag, 2010
  • Eduard Kögel, Der Deutsch-Chinesische Architekt Chen Kuen Lee, www.goethe-institut.de, Kulturmagazin
  • Eduard Kögel, Erweiterung der Architektur, archithese 6.2013
  • Eduard Kögel, https://www.goethe.de/ins/cn/de/kul/ mag/20686512.html
  • Andreas Schenk: Kalligraphie: die stille Kunst, eine Feder zu führen: Das Werkbuch zum Schönschreiben, AT-Verlag.

Bildnachweis Webseite: Andrea Schmidt


Der Text ist erschienen in m + a Ausgabe 89|90, Wandlung – Wege in der organischen Architektur